6 Tage die Woche Schule und niemals Ferien: freiwillig in der Nightschool
Am Abend, es war schon dunkel, brechen wir mit dem Jeep über unwegsames Gelände in ein Dorf auf, nur ca. 8 km von Tilonia entfernt. Es ist Samstag, nach 19 Uhr. Über finstere Wege legen wir die letzte Strecke zurück, dann hören wir schon an den Geräuschen, dass wir angekommen sind: Kinder wiederholen im Chor bestimmte Laute – wir sind in der Nightschool.

Unterricht im Dunkeln - Nightschool
Heute abend bezieht sich das wir nicht nur auf Bata und mich sondern auch auf einen jungen Amerikaner, der seit 2 Jahren in New Delhi in einem Think Tank arbeitet und die Wirkung von Hilfsmaßnahmen untersucht. Er erstellt gerade eine case study über das barefoot college und wird auch 2 Tage im Guesthouse wohnen.
Die Nightschool sollte es gar nicht geben müssen, aber hier in den armen Dörfern Rajasthans ist sie vor allem für Mädchen oft die einzige Chance auf Schulbildung. An 6 Tagen die Woche, Montag bis Samstag, mit einer Handvoll Feiertagen aber niemals Ferien, lernen hier gänzlich freiwillig jeden Abend von 18 – 21 Uhr – im Sommer von 19-22 Uhr ca. 30 Kinder gleichzeitig in den Klassenstufen 1-5. Obwohl der Unterricht schon seit einer Stunde läuft, treffen auch nach uns noch Kinder ein. Bis auf zwei Jungen sind alle Mädchen. Mit großen neugierigen Augen schauen sie uns an.

die Tafeln lehnen an der Hauswand des Lehrers
Ihr Klassenraum besteht aus einer Mauer in ihrem Rücken, einem daran gebauten Dach auf 2 Stelzen und zwei Tafeln, die an die gegenüberliegende Hausmauer angelehnt sind. In diesem Haus wohnt der Lehrer, deshalb ist der Unterricht dort.
Auf dem Boden sind ein paar schmale Teppiche ausgebreitet, sonst liegt dort nur Schotter und staubige Erde. Die Kinder sitzen mit nackten Füßen und wegen der Kälte eng in ihre Tücher gewickelt dicht beieinander.

zwei Solarlampen spenden Licht in der Dunkelheit
Das einzige Licht kommt von zwei Solarlampen. Es gibt in der Umgebung von Tilonia inzwischen über 70 Nightschools.
Die deutsche Welthungerhilfe hat über viele Jahre die Nightschools unterstützt aber dann die Hilfe eingestellt.
Die Begründung ist eine in der Industriewelt häufig zu hörende: mit den Nightschools würde man die Lebensverhältnisse der Kinder perpetuieren, man würde damit Kinderarbeit fördern und so dazu beitragen, dass die Kinder nicht tagsüber eine Schule besuchen können.
Mangli, Puja und Samlesh hüten tagsüber Ziegen– ohne Nightschool hätten sie niemals Schule
Das klingt auf den ersten Blick nicht unlogisch. Aber er einmal in diesen Dörfern war und die ärmlichen Verhältnisse gesehen hat, der glaubt sofort, dass es in vielen Familien keine Alternative dazu gibt, die Kinder – leider insbesondere die Mädchen – zum Ziegenhüten auf die Weide zu schicken oder aber zuhause auf die kleinen Geschwister aufpassen zu lassen, wenn beide Eltern arbeiten sind und Kinderbetreuung nicht existiert.

am Tag hütet sie Ziegen
Wir erzählen kurz wer wir sind und der Lehrer läuft, eine ausrollbare Weltkarte zu holen. Sie ist sehr klein, aber immerhin – ich zeige auf Indien und fliege dann mit dem Finger durch die Luft nach Deutschland. Dann ist Michael dran – er zeigt die Fluglinie St. Louis, USA. Die Kinder staunen über die Distanzen, vorstellen können sie sich wohl kaum.
Ich frage die Kinder, was sie so machen, tagsüber und die Antworten sind wie vermutet. Die meisten, Kearsi, Puja, Gusa, Ejen, Samlesh und andere hüten zwischen einer und 15 Ziegen, Mangli sogar 20 Ziegen. Santosch – ein schmächtiges Mädchen von vielleicht 10 Jahren – hütet 10 Kühe, Nandu, ein anderes Mädchen drei Ochsen, manche hüten Geschwister. Sampat und andere helfen den Eltern bei ihrer Erwerbsarbeit oder arbeiten im Haushalt.

auch die Kleinsten kommen in die Nightschool
Ich frage sie, ob sie gern zur Schule kommen und alle nicken begeistert, sogar bei der Frage, ob sie gern Hausaufgaben bekommen, nicken sie eifrig. Sie erzählen, dass sie sie oft mit auf die Weide nehmen und dort lernen.
Einmal im Monat gibt es einen Leistungstest, für den Übergang in die nächste Klassenstufe muss man ebenfalls einen Test absolvieren. Alle Kinder aus 5 Altersstufen werden gleichzeitig unterrichtet. Zwischendurch teilt der Lehrer die Gruppe in Altersstufen ein, die getrennte Aufgaben erhalten. Zwei bis drei Kinder haben einfach ihre Geschwister begleitet, zwei sehen aus, als wären sie höchstens 3-4 Jahre alt. Eines der Kinder erzählt stolz, dass es die 5. Klasse der Nightschool bestanden hat und nun als Kinderbetreuerin in einer Art Krippe arbeitet.
Eine ehemalige Ministerin und eine zukünftige Pilotin gehen in die gleiche Klasse

eine ehemalige Ministerin des Rajasthan-Nightschool-Kinderparlamentes (Mitte)
Ein anderes Mädchen ist jetzt in der 5. Klasse und war im vergangenen Jahr Nightschool-Ministerin. Alle Nightsschools werden von einem Kinderparlament „regiert“. Dazu finden alle 2 Jahre Wahlen statt, bei denen neben mehreren Ministerien auch die Position des Premierministers bzw. der Premierministerin zu vergeben sind.
Die Kinder lernen auf diese Weise eine Menge über Demokratie, wie eine Volksvertretung agiert, wie man sie wählt, wie man Wahlkampf macht und anschließend für die Wahlversprechen gerade stehen muss.
Sie gehen mit allem Ernst an die Sache und die gewählten Ministerinnen und Minister entwickeln ein starkes Selbstbewusstsein durch ihre Regierungstätigkeit. Sie besuchen andere Nightschools und treffen sich regelmäßig zu Kabinettssitzungen, sie planen gemeinsam auch Lehrstoff und beraten Probleme. Seit 1993 gibt es das Kinderparlament. Seine gewählten Mitglieder kommen aus vier Bezirken Rajasthans, einer Fläche ca. 800 Quadratkilometern.

Aufmerksam wird zugehört, trotz später Stunde
Ich frage die Kinder auch, was sie einmal werden möchten und nach kichern und tuscheln melden sich nur zwei Mädchen zu Wort: sie wollen Lehrerin werden. Ich frage, ob auch jemand Ärztin werden will und ein Mädchen meldet sich. Ein weiteres meldet sich von selbst– es möchte auch Krippenerzieherin werden. Auch auf die Frage, wer denn einmal Solaringenieurin werden will, meldet sich ein Mädchen. Und dann spricht noch eins von allein, es möchte Pilotin werden, am liebsten Hubschrauber fliegen und die anderen Kinder lachen. Ich erzähle von den Pilotinnen, mit denen ich schon durch die Luft geflogen bin und dass es durchaus möglich ist, diesen Traum zu verwirklichen, wenn man daran glaubt, fleißig lernt und nicht aufgibt.
Natürlich weiß ich, dass man allein mit gutem Willen nicht alles schaffen kann – nicht unter diesen Bedingungen. Aber die Welt verändert sich, auch in Rajasthan.

Das Klassenzimmer ist nur ein Dach auf zwei Stelzen an einer Mauer
So etwas in der Art habe ich auch in das etwas zerfledderte „Gästebuch“ der Nightschool geschrieben. Mich haben die Gesichter dieser Mädchen sehr beeindruckt, aus ihren Augen sprach eine Ernsthaftigkeit und ein fester Wille, aber wenn sie nur ihren Namen gefragt wurden, waren einige plötzlich ganz schüchtern, versteckten sich hinter ihren Tüchern und wagten sich kaum wieder hervor. Ich wünsche ihnen, dass sie diese Scheu ablegen und mit Stolz, Anmut und Würde zielgerichtet ihre Träume verwirklichen könen.
Ein Computer wird in die Luft gemalt und „Katjuscha“ erklingt in der Halbwüste Rajasthans
Dann sind die Kinder dran und dürfen Fragen stellen. Sie wollen wissen, ob ich auch Tiere zu Hause habe, was bei uns auf den Feldern wächst, ob ich verheiratet bin. Ich zeige ihnen ein Foto meines Sohnes, es wird von Hand zu Hand gereicht, alle wollen es unbedingt anschauen, es kommt Tumult auf und zum ersten Mal muss der Lehrer mahnen. Die Kinder fragen auch nach meinem Beruf und was ich da so mache.

Bata übersetzt
Ich beschreibe vereinfachend, dass ich in einer Computerfirma arbeite und viel am Computer sitze, woraufhin Bata, meine Übersetzerin, erst einmal beschreibt, was ein Computer ist und Monitor und Tastatur in die Luft zeichnet.
Am Ende frage ich die Kinder, ob sie denn Schokolade mögen und gerecht teilen können….die Antwort ist natürlich ein zweifaches JA. Ich habe zum Glück noch beim Dutyfree in Neu Delhi eine Riesentafel Schokolade gekauft – darin sind 40 Stück – das gibt gerade für jeden ein Stück, inzwischen sind noch ein paar Zuschauerkinder eingetrudelt.

die Schokolade wird verteilt
Ich habe auch von der Berliner Bonbonmanufaktur ein Tütchen dabei, beides, Bonbons und Schokolade werden verteilt. Wie bei den Bounties gestern gibt es auch hier nur langsames Genießen, einige Kinder lecken nur an der Schokolade, damit sie länger davon haben. Eines der kleinsten Kinder darf die Krümel aus der Schachtel essen. Ach ja. So sehr sich die Kinder freuen, so wenig ändert ein Stückchen Schokolade ihre Alltagswelt. Werden sie ihre Träume verwirklichen? Wird aus ihnen einmal eine Ärztin oder Hubschrauberpilotin werden? Oder bleiben sie im Kreislauf der Armut gefangen und werden wie meine Madonna von Tilonia vier Kinder bekommen und tagein tagaus kleine Hefte zusammenkleben, zu fünft oder zu sechst in einem einzigen, dunklen Zimmer leben?

Welche Zukunft wird diese Nightschool-Schülerin wohl haben?
Die Kinder singen ein Lied, über die Liebe zu ihrem Dorf, das ihre Heimat ist und einen Baum hat, der ihnen Schatten spendet. Sie wollen auch von uns ein Lied gesungen haben und da mir auf die schnelle (peinlicherweise) kein deutsches Lied einfällt, singe ich ihnen die erste Strophe von Katjuscha auf russisch vor.
Ich übersetze den Text auf englisch und Bata in den lokalen Dialekt – dabei zeigt sie auch Rußland auf der Weltkarte. So wird aus unserem Besuch doch noch ein wenig Bildung für die Kinder und nicht nur eine (wenn auch durchaus willkommene) Störung.
Michael mag nicht singen, also verabschieden wir uns von den Kindern. Sie lernen von Bata noch den Satz „thank you for the chocolate“, winken uns hinterher und wir verschwinden in das Dunkel der Nacht.

Es wird trotz alledem viel gelacht in der Nightschool
Uns begleitet der Lehrer mit der Solarlampe zum Jeep. In der finsteren Nacht sträunt nur ein Hund herum und ich frage mich, wie die Mädchen da allein nach Hause sollen. Sie haben Fußwege bis zu einem Kilometer zurückzulegen. Der Lehrer erzählt, dass sie zwar allein kommen, aber dass er sie nach Hause eskortiert. Ich bin etwas beruhigt. Ich wäre solche Wege als Kind niemals allein im Dunkeln gelaufen.
Nightschools sind notwendig. Leider. Noch.
An meinem Handy sehe ich, dass ich zum ersten Mal in Indien keinen Empfang habe. Das ist die Wirklichkeit im ländlichen Rajasthan, nicht die Solar- und WLAN Versorgung des barefoot college.
Man mag die Nightschools zwiespältig sehen, für mich sind sie ein Weg, Kindern Bildung zu ermöglichen, die sonst davon ausgeschlossen wären. Gerade bei Mädchen ist jedes einzelne Schuljahr umrechenbar in höhere Lebenserwartung, bessere Geburtenkontrolle und höheres Einkommen, es wirkt sich auf die Gesundheit ihrer späteren Kinder aus und auf deren Bildung. Wir können nicht mit unseren Maßstäben messen, wenn es darum geht, Armut in Entwicklungsländern zu beseitigen. Wir können die Augen vor der Lebenswirklichkeit dort nicht verschließen. Wo Nightschools der einzige Bildungsweg für viele Mädchen ist, muss man das Konzept rückhaltlos unterstützen.

Fünf Klassen werden gemeinsam unterrichtet
Aus diesem Grund wurden die Nightschools von Bunker Roy gegründet. Inzwischen gibt es 6.250 Schülerinnen und Schüler in 250 Nightschools in 6 indischen Staaten. Alle werden vom barefoot college unterstützt und mit über 500 Solarlampen beleuchtet. Das barefoot college unterstützt diese Schulen auch mit Lehrmaterialien, die von Jugendlichen mit Behinderungen im Campus erstellt werden. Mehr Informationen findet man auf der Website des barefoot college , außerdem gibt es auf YouTube den Film „Nightschools of Tilonia“.
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