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Posts Tagged ‘Entschleunigung’

Kaltstart in den Tag –  29.12.09

Über meinen heutigen Tag habe ich bisher nur wenig erzählt. Für die Neugierigen also mein Tag im Zeitraffer. Ich bin erstaunlich munter in den Tag gestartet, obwohl es nach deutscher Zeit noch mitten in der Nacht war. Neun Stunden Schlaf sind einfach genug. In meinem Bad gibt es nur fließend kaltes Wasser, das macht auch wach. Das Bad ist eine Tür neben meinem Zimmer, es ist spartanisch, die Spülung erfolgt mit einem Eimer. Ich putze mir mit kaltem Wasser in dem kalten Raum klappernd die Zähne. Später erfahre ich, dass es auf dem Flur einen Wasserhahn gibt, aus dem warmes, solarbeheiztes Wasser fließt. Das vergesse ich bestimmt nicht – heute abend ist der Hahn fällig.

Das Frühstück ist für die anderen um 8:30 Uhr schon vorbei. Es gibt wieder Fladenbrot aber diesmal in Öl gebacken, dazu etwas Kohlgemüse vom Vorabend und den obligatorischen Tee (für mich wieder ohne Milch). Ich spaziere danach durch das Campus, es gibt immer noch so viele Stellen, die ich nicht gesehen habe. Dabei entdecke ich die Ornamente in Batas Hof. In ihrem Büro setze ich mich eine Weile zum schreiben und Fotos sortieren hin, während Bata arbeitet. Leider ist dort das WLAN ausgefallen und irgendwann ist auch mein Laptop Akku leer, also ziehe ich um ins Telefonhüttchen. Dort holt mich Bata mittags ab, wir sind beide bei Aruna und Bunker Roy eingeladen, eine Dramaturgin und Theaterprofessorin aus Delhi ist auch zugast. Der Garten ist paradisisch (siehe mein Blogpost zur Kunst über die man laufen darf), wir sitzen im Freien, über uns hängen Blumenbüsche ihre Pracht herunter, Vögel singen und das Essen duftet aus verschiedenen Schalen so lecker wie es dann auch schmeckt. Außer mir essen wieder alle ohne Besteck, irgendwann muss ich das wohl doch auch mal lernen. Fladenbrot gibt es auch dazu aber in verschiedensten Variationen – aus Maismehl und aus Weizenmehl, mit und ohne Spinat daruntergemischt. Bunker macht wieder Witze darüber, dass ich in Tilonia so gefüttert werde, dass ich ein paar Kilo schwerer nach hause komme, ich glaube inzwischen, dass dieser Witz Realität werden wird. Immerhin, mein neues indisches Gewand hat Gummizug, da klemmt wenigstens nichts.

Bei Tisch reden wir über Ost und West und allerlei Frauenthemen. Aruna war schon zu DDR Zeiten in Dresden und ist auch sonst viel im Ostblock herumgekommen. Sie sagt, wie viele gute Dinge es dort gab, gerade in der Bildung und Kinderbetreuung. Ich erzähle ihr, wie empfindlich Manche heute noch im Westen reagieren, wenn man gute Haare in der DDR Vergangenheit findet.

Mir werden Mitarbeiter aus den Teams von Aruna und von Bunker Roy vorgestellt, mit etlichen von ihnen werde ich noch ausführliche Gespräche haben können, über die natürlich berichtet wird. Nach dem Essen gehe ich auf Ornamentsuche und sammele Fotoschätze. Auf dem Festplatz mit der Mandala-Feuerstätte entdecke ich etwas, das ich zuerst für eine Vogeltränke halte. Bata erzählt mir aber, dass die kleinen Schälchen Lichter enthalten, die zu Weihnachten angezündet wurden.

Hängelichterkette

Das Barefoot College – Land des Lächelns und der Entschleunigung

An dem Platz hängen auch bunte Stofffahnen, mit Weihnachts- und Neujahrswünschen und mit einem weisen Spruch –

Festtagsfahnen

„Friendship never asks for anything in return, which is why it receives so much abundance without measure“…Ja, an diesem Spruch ist viel Wahres dran. Er passt auch sehr gut in das barefoot college, weil hier ganz offensichtlich ein freundschaftliches Miteinander dominiert. Ich habe noch kein einziges lautes Wort gehört, selten so viele Menschen lächeln sehen. Ich glaube, in Deutschland lächelt man einfach zu wenig, dabei pflanzt sich ein Lächeln immer fort (ich muss da an eine sehr schöne Geschichte von Volker Strübing denken, von der Lesebühne „Liebe statt Drogen“). Mir fiel das heute bewusst auf, als ich bei jedem einzelnen Lächeln merkte, wie mir Sonnenstrahlen das Herz wärmten und ich irgendwann auch nur noch lächelnd herumlaufen konnte. Klingt kitschig, aber so hat es sich gefühlt. Wie Wärme von innen, durch die Freundlichkeit der Umgebung erzeugt.

Ich habe mich noch in keinem Urlaub so entspannt. Das liegt natürlich auch daran, dass ich zur Abwechslung mal nicht dauernd von A nach B reise und auch daran, dass man hier überall für mich sorgt, als wäre ich in einem all-inklusive Urlaub. Aber es liegt gewiß auch an der Freundlichkeit und Langsamkeit im Campus. Jetzt verstehe ich, wie das Bunker Roy immer meinte, wenn er mir in der Vergangenheit öfter riet „you have to do everything much slower, dont rush through your life“. Ich habe mich selten so entschleunigt gefühlt wie hier, wenn überaupt schon einmal. Die Zeit läuft neben mir her und ich merke es kaum. Ich habe keine Termine, keine Pläne, keine Verabredungen – wenn dann nur lose und zum nächsten Essen. Es gibt nie Eile, nie Druck, nie etwas zu verpassen. Da wo ich bin, bin ich immer richtig. Ein wunderbares Gefühl und ein eher ungewohntes oder sagen wir mit der Zeit verloren gegangenes Gefühl.

Kunst, die man kaufen kann

So wandere ich am Nachmittag auch in den barefoot college Shop, um mir die käuflichen Ergebnisse der vielfältigen Handwerke anzuschauen. Ich wollte sie wirklich nur anschauen, aber natürlich blieb es nicht dabei. Als Mensch mit Sinn für das Textile und Achtung vor dem Handwerk kann man im Shop verloren gehen oder zumindest ein paar stauenden Stunden verbringen.

der Barefoot College Craft Shop

Neben mir tat das auch eine indisch stämmige Familie aus Minnesota, der Vater ein Professor für Management, die Mutter ehemals aus Tilonia, die Kinder sind zum ersten Mal da.

Produkte aus dem Craft-Shop

Fast beneide ich sie um ihre gegenseitige Gesellschaft, in der sie sich immer wieder mit kindlichen Staunen und Begeisterungsrufen die schönsten Stücke zeigen, große Bettdecken auf dem Boden ausbreiten, die Vorzüge von Kissenfarben diskutieren und die Feinheit von Patchwork und Stickerei bewundern.

Produkte aus dem Craft-Shop

Ich staune still vor mich hin und baue in einer Ecke einen kleinen Stapel mit ausgesuchten Lieblingsstücken.

Ausschnitt aus einem riesigen Wandbehang mit Applikationen

Schuhe müssen jetzt auch sein, diese Machart hat fast das ganze Dorf an. Sie haben einen unschlagbaren Vorteil – man kann sehr einfach rein und raus schlüpfen, was man hier fast überall muss. Schuhe ausziehen ist hier Gebot an jeder Tür. So passt mein Schuhwerk auch besser zur indischen Kleidung.

meine neuen Schuhe

Neben einigen Kissenbezügen und anderen textilen Kleinigkeiten nehme ich aber auch noch 2 Bücher mit: eine Art Katalog des Kunsthandwerks aus dem college und ein Fotobuch mit Bildern der barefoot college Fotografen. Mein Großeinkauf kostet 63 Dollar und passt gerade so in zwei Tüten. Selbst diese Tüten sind Handwerk – aus alten Zeitungen, selbstgedrehten Hanfkordeln und an den Seiten mit Dekor beklebt. Nach dem Shoppen gibt’s wieder Tee mit Bata, draußen vor der Messe.

Bata beim Tee vor der Messe

Die Zeit bis zum Abendessen vergeht mir sehr schnell, umso mehr kommt es mir entgegen, dass wir etwas später essen gehen müssen, da die Blechteller alle sind. Heute bekomme ich kein Extraessen aber so scharf finde ich es gar nicht, vielleicht gewöhne ich mich auch nur langsam an die Schärfe im Essen. Ich möchte Bata etwas von der Heimat zeigen, aber auf meiner Festplatte finden sich nur Bilder von Berlin, auch da eher spezielles, wie das Lichtfestival und die Feiern zum 20. Jahrestags des Mauerfalls. Die Bilder von den Dominosteinen eignen sich aber gut, um ein wenig Deutschlandgeschichte zu erzählen, sie sind voller Symbolik. Ich zeige ihr meinen YouTube Film  mit den Mauersteinen und fast jedes Bild ist ein Stichwort zum Erzählen. Bata muss noch arbeiten, weitere Fotoschauen verschieben wir auf später. Ich setze mich ans Schreiben bis die Telefonhütte schließt. Mein zweiter Tag in Indien geht zu Ende.

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